Data Product Management - Das fehlende Bindeglied um Künstliche Intelligenz gewinnbringend einzusetzen

von Nadiem von Heydebrand, CEO & Mitbegründer, Mindfuel und Philipp Hartmann, Director AI Strategy, appliedAI

Schaut man sich die Anwendunge von Künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning (ML) an, so scheint sich eine Kluft aufzutun: Auf der einen Seite stehen die großen Technologieunternehmen bei denen KI Alltag geworden ist - die Geschäftsmodelle von Firmen wie Uber, Airbnb, Zalando oder TikTok würden heute ohne die Nutzung von ML nicht mehr funktionieren. Auf der anderen Seite stehen die “traditionellen” Unternehmen: Viele haben - auch trotz der Corona-Krise - verstärkt in Daten- und KI-Initiativen investiert (NewVantage Partners), aber nur wenige berichten von einem echten Mehrwert aus solchen initiativen Studien zeigen, dass 80% bis 90% der Initiativen scheitern und es nicht in die Produktion schaffen.

Was ist der Grund dafür, dass “traditionelle” Unternehmen es oftmals nicht schaffen KI gewinnbringend einzusetzen? Natürlich gibt es eine Vielzahl an Gründen: Einen Mangel an Fachkräften, Schwierigkeiten bei Akzeptanz von neuen Technologien und natürlich ist es einfacher ML anzuwenden wenn man ein digitales Produkt hat und nicht auf veraltete Systeme zurückgreifen muss. Jedoch beobachten wir immer häufiger einen wesentlichen Punkt: Das Fehlen eines KI Product Mindsets. Viele verlieren beim Einsatz von KI Lösungen den Mehrwert für den Endnutzer aus dem Auge und übersehen, dass die Eigenheiten der Technologie das präzise Planen von KI-Projekten sehr schwierig macht.

Diese Erkenntnis ist wichtig für zwei Gruppen in heutigen Unternehmen: Zum einen bestehen KI Teams heutzutage oft nur aus technischen Experten - es fehlt die Perspektive des Produktmanagements und die damit verbundenen Prozesse und Methoden. Zum anderen müssen “normale” Produktmanager verstehen, welche Besonderheiten Datenprodukte haben und wie die Entwicklung von Machine Learning Modellen abläuft, die in der Zukunft zu einem gewissen Grad Teil eines jeden digitalen Produkts sein werden.


Wir sind der Meinung, dass es eine spezielle Disziplin und Rolle braucht, um datengetriebene Produkte erfolgreich zu machen. Wir nennen diese Rolle den Data Product Manager.


Ein Nutzer interessiert sich dafür, ob sein Problem gelöst wird - nicht dafür, ob ein maschinelles Lernmodell 90 % oder 95 % Genauigkeit hat.

KI-Initiativen in “traditionellen” Unternehmen werden oft wie normale Projekte gehandhabt, selbst wenn es das Ziel ist ein Datenprodukt zu entwickeln. Meistens laufen solche Initiativen alle gleich ab: Es wird ein Ziel und Umfang mit Budget und Zeitplan definiert. Das Projekt ist dann erfolgreich, wenn das vorher definierte Ziel erreicht wird. Ähnlich werden ML Projekte als erfolgreich angesehen, wenn ein Modell eine Vorhersage mit eine vordefinierten Genauigkeit generieren kann.

Aber was ist falsch an diesem Ansatz und warum? Wenn wir die Welt aus dem Blickwinkel des Data Product Managers betrachten tappen viele häufig in eine Falle: Viele Dateninitativen und Entwicklungen, die wie Projekte gehandhabt werden, übersehen oft den Endnutzer. Wenn das geschieht, führt es oft zu einer Situation, in der Unternehmen Schwierigkeiten haben, Datenprodukte wirklich in ihre Geschäftsprozesse, Produkte oder Dienstleistungen einzubinden. So verlaufen die abgeschlossenen Projekte im Sande, ohne Geschäftsergebnisse zu erzielen, ohne einen echten Mehrwert für die Nutzer oder Unternehmen zu schaffen und ohne die Datenkultur des Unternehmens zu fördern.

Sicherlich ist die Erkenntnis, den Nutzer an erste Stelle zu stellen, weder neu noch spezifisch für KI. Es gibt jedoch inhärente Eigenschaften der KI, die den Einsatz eines Product Mindsets zu einem absoluten Muss machen:

Erstens kann bei ML Lösungen die Qualität des Ergebnisses (z.B. die Genauigkeit des Modells) erst nach der Entwicklungsphase beurteilt werden. Daher lassen sich typische Projektparameter vor Beginn der Entwicklungsphase nur zum Teil definieren, wie z. B. vorher festgelegte Ergebnisse, ein vorher festgelegtes Enddatum und ein festes Budget. Aus diesem Grund spiegelt der Planungsprozess eher die Konzeption eines Produkts wider, bei dem Methoden zur Produktfindung verwendet werden sollten.

Zweitens sind KI-Lösungen nie wirklich "fertig". Sie erfordern einen kontinuierliche Betrieb und Bearbeitung, vergleichbar mit dem Produktlebenszyklus. Daher sollten Unternehmen, genau wie bei herkömmlichen Produkten, ein spezielles Team (in manchen Fällen sogar auch mehrere Teams) einrichten, das für ein bestimmtes KI-Produkt verantwortlich ist. Das Team ist dann für die laufende Entwicklung des Produkts und seine vollständige Integration und Übernahme im Unternehmen verantwortlich.

Drittens: Um den Wert von Datenprodukten voll auszuschöpfen, müssen sie in ein Ökosystem integriert werden, z. B. in ein digitales Produkt oder eine Plattform. Diese Integration ist eine typische Aufgabe des digitalen Produktmanagements.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass um erfolgreich zu sein, sollte die Entwicklung von ML Lösungen als ein "echtes Produkt" betrachtet werden. Dabei meinen wir mit “Produkt” nicht nur Leistungen, die externen Kunden angeboten werden, sondern auch interne Produkte oder Dienstleistungen, also jede Art von Initiative, die einen Mehrwert aus Daten schaffen soll.



Bildschirm mit Weltkarte auf der einige Bereiche rot und orange gekennzeichnet sind

Wie ein Product Mindset Munich Re’s Location Risk Intelligence Plattform erfolgreich gemacht hat

Der Vorteil einer produktbezogenen Denkweise wird am Beispiel des weltweit führenden Rückversicherungsunternehmens Munich Re deutlich. Mit dem Ziel, ein völlig neues Kundenerlebnis zu schaffen, hat Risk Management Partners, eine auf Risikomanagementlösungen und -dienstleistungen spezialisierte Abteilung der Munich Re, eine SaaS-Lösung für Risikobewertung und -management eingeführt. Damit können Unternehmen physische und finanzielle Risiken analysieren, denen sie aufgrund von Naturkatastrophen und Klimawandel ausgesetzt sind.

Nach einer erfolgreichen Einführung im Jahr 2019 wurde schnell klar, dass eine Lösung für das Management des Lebenszyklus notwendig war. Durch die Implementierung eines passgenauen Data Product Managementansatzes war Risk Management Partners in der Lage, einen kontinuierlichen Produktbetrieb zu gewährleisten und gleichzeitig die Lösung weiterzuentwickeln. Dadurch hat das gesamte Produktteam gelernt, den Wettbewerbsvorteil zu halten und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen, um die Zufriedenheit hoch zu halten.

Durch die Einführung funktionsübergreifender Teams, in denen Data Product Manager, Product Owner, Data Scientists und Softwareingenieure als ein Team agieren, konnte der Kundenstamm in 12 Monaten deutlich vergrößert und das Geschäft erfolgreichen vorangetrieben werden. Die Umstellung von Projektmanagement auf ein Produktmanagement hat es Risk Management Partners erleichtert, kontinuierlich neue Funktionen aus dem Feedback der Kunden zu entwickeln und somit ein erfolgreiches, datengetriebenes Geschäftsmodell aufzubauen.

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Verantwortlich für den Wertschöpfungsprozess - die Rolle des Data Product Managers

Data Science Teams bestehen in der Regel aus WIssenschaftlern und Ingenieuren. Data Scientists und ML-Ingenieure sind es gewohnt, sich auf die technische Machbarkeit der von ihnen entwickelten Lösungen zu konzentrieren. Diese Perspektive erschwert jedoch den Blick auf andere Erfolgsfaktoren, z.B. ob der Mehrwert überzeugend ist oder was die Endnutzer oder Kunden wirklich brauchen.

Lösungen aus der Geschäfts- und Nutzerperspektive zu betrachten ist genau der Kern des Produktmanagements. Das Hauptaugenmerk des Produktmanagements lag schon immer darauf, ein Gleichgewicht zwischen den drei Dimensionen “Feasibility” (Machbarkeit), “Viability” (Realisierbarkeit) und “Desirability” (Wünschbarkeit) herzustellen. Während jede Dimension unterschiedliche Fähigkeiten erfordert und unterschiedliche Ansätze und Methoden beinhaltet, führt die Kombination oft zum Erfolg.

Wendet man die Disziplin des Produktmanagements auf Datenprodukte an, so wird deutlich, dass das Ökosystem eine zusätzliche Dimension für Produktmanager erfordert: “Datability” (Datenfähigkeit). Diese Dimension verlangt profunden Kenntnissen und Fähigkeiten im Bereich Daten und bewertet das Datenpotential des Produktes. Durch die Kombination von Feasibility, Viability, Desirability und Datability kann ein Datenprodukt erfolgreich entwickelt und eingesetzt werden.


Das richtige Team zusammenstellen, um KI-Produkte mit einer produktbezogenen Denkweise zu entwickeln

Um ein erfolgreiches Produktteam zusammenstellen braucht es ein funktionsübergreifendes Team. Um einen Mehrwert für Nutzer und Kunden schaffen zu können, muss zunächst festgelegt werden in welche Umgebung das KI-Modell integriert werden soll: Soll es in ein existierendes System wie ein digitales Produkt oder eine Plattform integriert werden? Wird es direkt von Endkunden eingesetzt und benötigt deswegen z. B.eine eigene Benutzeroberfläche? Oder wird es als Microservice in ein größeres Betriebssystem eingebettet?

Nehmen wir an, wir wollen es in ein digitales Produkt integrieren. Dies erfordert eine enge Zusammenarbeit mit dem zuständigen Produktteam welches wie folgt zusammen gesetzt sein sollte:

● Data Product Manager: Diese Funktion schlägt die Brücke zum digitalen Produktteam, indem Data Product Manager die Hypothesen und Annahmen die für den Erfolg entscheidend sind validieren und mit dem Geschäftsmodell abgleichen. Data Product Manager verstehen die Bedürfnisse und Wünsche der Kunden, handeln datengetrieben und arbeitn eng mit dem Data Science Team zusammen.

● Data Product Owner: Data Product Owner sind zusammen mit dem Data-Science-Team für die Realisierung des Produkts verantwortlich. Sie haben die Verantwortung für die Entwicklung und stellen sicher, dass das Produkt alle Anforderungen aus dem Geschäftsumfeld erfüllt. Sie arbeiten eng mit Data Product Manager zusammen und stimmen sich intensiv mit ihnen ab.

● UX-Designer*in: UX-Designer*innen unterstützen das verantwortliche Team des/der Data Product Manager und des/der Data Product Owner dabei, die Kundenbedürfnisse auf strukturierte Weise zu verstehen. Sie erstellen Customer Insights, testen und validieren diese und übersetzen sie in klare technische Anforderungen und Umsetzungskonzepte. Es ist wichtig zu verstehen, dass es beim UX-Design nicht nur um die visuelle Gestaltung der Benutzeroberfläche (des Frontends) geht, sondern darum die Erwartungen des Nutzers an das spätere Produkt zu erfüllen.

● Data Scientist: Data Scientists jonglieren mit Daten. Genauer gesagt leiten sie Erkenntnisse aus den, im Unternehmen vorhandenen, Datenmengen ab. Mit ihrem statistischen Verständnis führen sie Analysen durch und entdecken Muster und Strukturen in den Daten. Zudem nutzen sie Daten um Hypothesen zu validieren und die gewonnen Erkenntnisse zu präsentieren.

● ML-Ingenieure: ML-Ingenieure implementieren KI-Systeme. Sie tragen die technische Verantwortung für die Gesamtlösung und kümmern sich um die Skalierbarkeit, Reproduzierbarkeit und Gesamtqualität eines KI-Produkts.

● Data Engineer: Der Data Engineer arbeitet eng mit dem Data Scientist und ML-Engineer zusammen und übernimmt die Verantwortung für sogenannte Datenpipelines, die dazu dienen Daten aus ihren Quellen extrahieren und in ein passendes Format speichern. In den meisten Fällen sind sie auch für die Datenarchitektur verantwortlich und stellen die technische Umsetzbarkeit von KI auf dem vorhandenen technischen Infrstruktur sicher.

● DevOps Engineer: Der DevOps Engineer schlägt die technische Brücke zum digitalen Produktteam. In enger Zusammenarbeit mit den anderen Teammitgliedern übernimmt diese Funktion die Verantwortung für integration des Produktes.


Wie schafft man den Wandel hin zu einem Product Mindset?

Der Wechsel vom Output zum Outcome und vom Projekt zum Produkt ist ein großer Schritt. Er beinhaltet Themen wie Veränderung, ein hohes Maß an Struktur und Sinn für Prozessabläufe. Es ist ein Paradigmenwechsel und erfordert daher Disziplin und Konsequenz bei allen Beteiligten. Um KI-Produkte mit einer Product Mindset zu entwickeln schlagen wir drei einfache Dinge vor:

1. Benennen und spezifizieren Sie das Ergebnis, das Sie erzielen wollen: Die Diskussion über das Ergebnis ist der erste Schritt. Nutzen Sie Brainstorming und diskutieren Sie, welches Ergebnis Sie am Ende Ihres Prozesses sehen wollen und wer davon profitieren wird. Definieren KPIs, um das Ziel greifbar zu machen.

2. Beurteilen Sie die Zusammensetzung Ihres Teams mit Schwerpunkt auf den Aktivitäten: Jedes Produkt ist anders und erfordert andere Fähigkeiten. Daher können die Teams immer leicht unterschiedliche Rollen haben, als definiert. Die Rollen mögen zwar unterschiedlich sein, die für die Bereitstellung des Produkts erforderlichen Aktivitäten sind es jedoch nicht. Daher sollten die Zusammensetzung der Teams die Anzahl an abuzdeckende Aktivitäten als Grundlage haben. Während am Anfang bei kleineren Produkten die Aktivitäten von einer Rolle abgedeckt werden können (z. B. kann ein Data Scientist die Aktivitäten des ML-Ingenieurs oder der Datenprodukteigentümer übernehmen), müssen die Rollen aufgeteilt werden, wenn das Produkt skaliert wird.

3. Entwerfen Sie einen Lebenszyklusprozess für Datenprodukte und führen Sie ihn ein: Die eigentliche Arbeit beginnt, sobald das Datenprodukt auf den Markt gebracht wurde und genutzt wird. Die Endnutzer (wenn Sie Glück haben) Feedback geben, welches wieder in Ihren Entwicklungsprozess integriert werden kann. Der Grad an Professionalität und Kontinuität in Ihrem Lebenszyklusmanagement, werden den Erfolg des Produktes stark beeinflussen.

In dem Moment, in dem Sie diese drei Schritte operationalisieren wird sich früher oder später ein Produktmentalität etablieren und der Erfolg des Datenprodukts wird wachsen. Vor allem aber wird Ihr Endnutzer es Ihnen danken.